
Forum Maximilianeum 2025
Thema: Folgt der Wissenschaft? - Politik zwischen Expertise und Expertokratie
Podium
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Jamila Schäfer, MdB, ehem. stellvertretende Bundesvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Prof. Dr. Caspar Hirschi, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen
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Prof. Dr. Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin
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Axel Bojanowski, Chefreporter Wissenschaft der Tageszeitung Die Welt
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Miriam Witt, Stipendiatin der Stiftung Maximilianeum
Moderation
Marc Steinhäuser, stellvertretender Leiter der Ereignis-Redaktion bei Phoenix (ARD/ZDF)
Bericht
“Scientists for Future!” – 2019 unterzeichneten 26.800 Forscherinnen und Forscher eine Stellungnahme, die unter diesem Slogan für eine an wissenschaftlicher Erkenntnis orientierte Klimapolitik eintritt. Doch es gibt Gegenstimmen: Gerade während der Pandemie wurde eine Entparlamentarisierung von Entscheidungen beklagt. Wissenschaftliche Expertise sei in der Demokratie nicht alles, zu Entscheidungen nur die Politik berechtigt. In diesem Streit wird eine Grundfrage des demokratischen Verfassungsstaates deutlich: Wo hört wissenschaftliche Erkenntnis auf, wo fängt politische Abwägung an? Diese und weitere Grundfragen zur Bedeutung wissenschaftlicher Politikberatung wurden beim Forum Maximilianeum 2025 diskutiert.
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Am Beginn der Veranstaltung stand das Impulsreferat durch Miriam Witt, Stipendiatin der Stiftung Maximilianeum und Physikstudentin an der LMU. Sie gab einen umfassenden und sehr facettenreichen Überblick über die Streitfragen, die sich bei der Zuständigkeitsabgrenzung von Wissenschaft und Politik stellen. Wissenschaftliche Expertise sei – im Ausgangspunkt unstreitig – essenziell, um die fundamentalen Herausforderungen der Zeit zu bewältigen. Eine gewisse Expertenherrschaft könne in dringenden Krisensituationen die Handlungsfähigkeit der Demokratie sichern. Das zeigten die Diskussionen zum Klimaschutz und der Coronapolitik. Auf der anderen Seite entstünden demokratische Legitimationsprobleme, wenn Experten zu viel Entscheidungsmacht eingeräumt wird. Dass die Wissenschaft die Faktengrundlage liefert, während Politiker konfligierende Interessen abwägen, könne nur Ausgangspunkt der Zuständigkeitsabgrenzung sein. Denn bereits die Vielzahl an Kommissionen der neuen Bundesregierung zu wesentlichen Politikfeldern wie Gesundheit, Rente und Schuldenbremse zeige, dass der Wissenschaft eine über die Informationsbeschaffung hinausgehende Ratgeber- und Moderatorenrolle zugedacht wird. Dem stünden Strömungen entgegen, die das „Diktat der elitären Wissenschaft“ fürchten und eine Rückbesinnung auf einen im Kern faktenfreien „gesunden Menschenverstand“ befürworten. Autoritäre Wissenschaftsgläubigkeit und Wissenschaftsleugnung begingen hier denselben Kardinalfehler.
Sodann wies Miriam Witt auf eine problematische Argumentationsweise im politischen Prozess hin: Werden unpopuläre Entscheidungen nicht mehr als Ergebnis politischer Abwägung, sondern als Direktive eines wissenschaftlichen Sachzwangs präsentiert, versteckt sich der demokratisch gewählte Politiker hinter einer scheinbar unpolitischen Wissenschaft. Das verschleiere nicht nur die politische Entscheidungsverantwortung, sondern behindere auch den sachlichen Diskurs, da Meinungsverschiedenheiten nicht mehr mit unterschiedlichen Wertvorstellungen erklärt werden können, sondern Gegenstimmen scheinbar notwendigerweise die wissenschaftlichen Grundlagen anzweifeln. Zuletzt stellte Miriam Witt noch Inkonsistenzen zwischen der Expertenbeteiligung in verschiedenen Politikbereichen fest: In der Geld- und Mindestlohnpolitik werde Expertenherrschaft akzeptiert, in der Renten- und Klimapolitik nicht. Dabei gehe es in allen Bereichen um Entscheidungen, bei denen die Politik „strukturell befangen“ sei und die viel Sachkunde verlangen.
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Marc Steinhäuser (stellvertretender Leiter der Ereignis-Redaktion bei Phoenix) leitete als Moderator die Diskussion über die „Kommissionitis“ der neuen Bundesregierung mit dem Sprichwort ein: „Wenn man mal nicht weiterweiß, macht man einen Arbeitskreis. Kennt man das Ergebnis schon, macht man eine Kommission.“ Jamila Schäfer, Bundestagsabgeordnete für Bündnis90/Die Grünen, hegte den Verdacht, die hohe Zahl von Kommissionen solle überdecken, dass sich die Regierung in vielen wichtigen Punkten nicht einig ist und sich bei zentralen Themen aus der Verantwortung stehlen will. Caspar Hirschi, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen, befürchtete eine Entparlamentarisierung von Entscheidungsprozessen, wenn anstelle von Bundestagsausschüssen Regierungskommissionen diskutieren und entscheiden. Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin, berichtete von eigenen Erfahrungen aus Bundestagsausschüssen, bei denen jede Partei einen wohlgesonnenen Professor schickte, der die Parteilinie wissenschaftlich untermauerte, ohne dass eine echte Diskussion zustande kam.
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Miriam Witt leitete auf die Frage über, ob die Klimapolitik analog zur Geldpolitik an Experten delegiert werden sollte. Jamila Schäfer befürwortete zwar eine starke wissenschaftliche Politikberatung als Gegengewicht zu wirtschaftlichen Interessen, betonte aber gleichzeitig, dass gewählte Politiker demokratisch für ihre Entscheidungen verantwortlich sein müssen. Axel Bojanowski, Chefreporter Wissenschaft bei WELT, betonte hingegen die großen Unsicherheiten gerade in den Klimawissenschaften und die politischen Zielkonflikte, die eine Berufung auf „die Wissenschaft“ ausschlössen. Caspar Hirschi klärte über den Hintergrund der Expertokratie in der Geldpolitik auf: Nach der Hyperinflation habe man einen so weitgehenden Konsens über das Ziel der Inflationsbegrenzung erzielt, dass man dessen Verfolgung an Experten delegieren konnte. Dieser Konsens sei in der Klimapolitik auch unter Experten nicht erreicht. Bei dieser Frage, die den Kern des Themas bildet, hakte Miriam Witt ein: Zwar gäbe es in der Klimapolitik eine größere Vielfalt denkbarer Maßnahmen, ebenso wie in der Geldpolitik habe sich die Gesellschaft jedoch auf ein verbindliches Ziel verständigt. Volker Quaschning mutmaßte, dass die Dringlichkeit der Klimakrise vielen Leuten noch nicht ausreichend bewusst sei: „Wenn wir den zweiten Planeten ruinieren, würden wir wahrscheinlich eine Expertenkommission einsetzen. Beim ersten müssen wir erstmal Erfahrung sammeln.“
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Nachdem die Diskussion kurz zum Heizungsgesetz abzudriften drohte, spannte sich ein neuer, energiereicher Konflikt auf dem Podium auf: Auf Axel Bojanowskis Argument hin, dass Menschen sich im Konflikt zwischen Klimaschutz und eigenem wirtschaftlichen Vorteil immer für letzteres entscheiden würden und daher Klimaschutz in der bisherigen Form demokratisch nie durchsetzbar sei, wies Miriam Witt auf einschlägige Umfragen zur hohen Klimaschutzbereitschaft der Bevölkerung sowie den Bürgerrat für Klima hin, der als Gremium zufällig ausgewählter Bürger sehr weiterreichende Klimaschutzmaßnahmen empfohlen hat. Volker Quaschning fügte hinzu, dass das Kostenargument gerne vorgeschoben wird, um Klimaschutzmaßnahmen zu behindern. Als Klimaexperte sei er durchaus in der Lage, die Folgekosten der Schutzmaßnahmen in seine Expertise miteinzubeziehen. Caspar Hirschi beeindruckte sodann mit einem Beispiel aus der Geschichte: Die Bekämpfung der Cholera machte im 19. Jahrhundert hohe Investitionen in die Sauberkeit der Städte erforderlich. In Basel hätte die Bevölkerung es auch nach einem folgenreichen Cholera-Ausbruch wegen der Kostenbelastung abgelehnt, die Hausbesitzer zur Entfernung unhygienischer Plumpsklos zu verpflichten. Ein Sinneswandel konnte nur dadurch erreicht werden, dass die Stadt die Kosten vollständig übernommen hat.
Vom Cholera-Beispiel leitete Marc Steinhäuser zur wissenschaftlichen Politikberatung während Corona über. Axel Bojanowski bemängelte, dass die Politik gerade zum Anfang der Pandemie die Virologie zur Sprecherin für die gesamte Wissenschaft ernannt hat. Caspar Hirschi sah wegen des unterschiedlichen Wissensstands grundlegende Unterschiede zur Klimadebatte und benannte ein Kernproblem, das in Deutschland zu viel Polarisierung geführt habe: Die Politik habe die Wissenschaft vorgeschickt, wo es eigentlich um grundlegende Wertekonflikte zwischen Freiheit und Sicherheit gegangen sei. In der Schweiz hätten dagegen die Expertengremien offen gestritten und bei streitigen Themen nicht zwanghaft versucht, einen Konsens zu formulieren. So gaben die Expertengremien etwa keine Empfehlung zu Schulschließungen ab, wodurch diese klar als Wertentscheidung der Politik markiert worden seien. Jamila Schäfer plädierte für einen ehrlicheren Umgang mit Unsicherheiten und forderte eine entschlossene Analyse der Coronamaßnahmen, um für zukünftige Krisen besser vorbereitet zu sein.
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Nach dieser kurzweiligen und facettenreichen Diskussion wurden in der Fragerunde weitere Aspekte des Themas angesprochen: Auf eine Frage nach den Kosten von Klimaschutz auf der einen und Klimawandel auf der anderen Seite diskutierten Axel Bojanowski und Volker Quaschning über die aktuelle Studienlage. Caspar Hirschi erblickte in dem Studienstreit der beiden Diskutanten aus Sicht der Wissenschaftskommunikation „kein Glanzstück“. Jamila Schäfer ergänzte, dass es für Politiker oft schwierig ist, alle wissenschaftlichen Grundlagen eines Themas zu überblicken. Dennoch sollte sich die Politik komplexe Diskussionen zutrauen. Das Motto müsse lauten: “Listen to the science“ statt “Follow the science”. Hierzu gehöre aber auch die Offenheit, die bisherige Fraktionslinie auf Basis wissenschaftlicher Expertise zu korrigieren.
Außerdem wurde gefragt, ob mehr Wissenschaftler selbst in die Politik gehen sollten. Caspar Hirschi zeigte auf, dass in der Geschichte gerade in Regionalparlamenten viele Professoren vertreten waren – allerdings als gewählter Politiker, nicht als Wissenschaftler. Das Beispiel Italien zeige, dass Expertenregierungen (der Ökonomieprofessoren Draghi, Conte und Monti) oft das politische Geschick im „Spiel der Macht“ fehlte, um stabile Regierungen bilden zu können. Auch er selbst sei für einen Wechsel in die Politik ungeeignet: „Ich möchte keine Mehrheiten haben, ich möchte recht haben!“ Die letzte Frage brachte das am Ende ungelöste Grundproblem des Themas auf den Punkt: Nach welchen Kriterien kann man wissenschaftliche und politische Fragen unterscheiden? Caspar Hirschi stellte den Schweizer Weg vor: Experten sollten in der Krise nur unterschiedliche Handlungswege und Szenarien aufzeigen, aber keine Empfehlungen geben. Auf dieser Basis müsse die Politik entscheiden und begründen. Jamila Schäfer berichtete aus ihrer Arbeit, dass sie Expertise dort einbeziehe, wo ihr Fachwissen fehle, das sie für eine Wertentscheidung benötige.
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Das Schlussfazit von Miriam Witt fasste die Diskussion treffend zusammen: Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik sei ein sehr kontroverses Thema, sodass seine geringe Öffentlichkeitspräsenz überrascht. Das Forum Maximilianeum habe eine Marktlücke entdeckt. Gleichzeitig hätte man auf dem Podium keine Blaupause für die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik erarbeiten können. Jedoch seien politische Streitthemen aufgezeigt worden, in denen von entscheidender Bedeutung ist, wo die Sphären von Politik und Wissenschaft enden bzw. enden sollten. Einen Erfolg kann das Forum Maximilianeum 2025 daher in jeden Fall verzeichnen: Die Gäste im Publikum haben sich mit Fragen auseinandergesetzt, die sie sich zuvor noch nie gestellt haben.
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Lorenz Reichert
Impressionen

Diskussionsbeitrag von Caspar Hirschi

Begrüßung durch den Vorstand der Stiftung, Hanspeter Beißer

Diskussionsbeitrag von Jamila Schäfer

Diskussionsbeitrag von Caspar Hirschi
Copyright Bilder: Jakob Hofmann